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Bin ich ein Held?

oder: „Wie schaffst du das nur?“

Lesezeit ca. 7-10 Minuten

Ich weiß nicht, wie oft ich das in den letzten Jahren gefragt wurde…
Zugegeben: Ich habe 3 Kinder, bin als Coach selbständig und unterrichte nebenberuflich in einer Schule. Klar – ich chauffiere meine Kinder zu diversen Freizeitaktivitäten, helfe bei Hausaufgaben und koche (mehr oder weniger) gesund. Und weil es mir wichtig ist, engagiere ich mich auch ehrenamtlich und pflege meine Hobbys. Aus purer Neugier hatte ich nach der Geburt meiner ersten Tochter dann noch ein Studium begonnen und nach der Geburt der beiden jüngeren, dann noch einen verdammt guten Abschluss gemacht – einfach weil ich’s jetzt wissen wollte, einmal Begonnenes ungern liegen lasse und mich das Thema brennend interessierte.

Ich bin also von jeher ein ziemlich vielseitiger und begeisterungsfähiger Mensch und wenn ich mich nicht grade fortbilde, neige ich dazu irgenwas zu organisieren, aufzubauen oder mich anderweitig zu zu engagieren.

Die Frage wie ich das schaffe liegt nahe. Und die Antwort ist einfach: In bin extrovertiert, mag Menschen und Bücher und genieße es, aktiv zu sein. Ich liebe meine Kinder und meinen Beruf, der auch Berufung ist. Ich tanke quasi bei der jeweiligen Aktivität Kraft und erhole mich bei meiner Arbeit von der Familie und bei der Familie von der Arbeit.

Keine große Sache also. Ich kenne viele Frauen, Mompreneure, arbeitende Mütter, engagierte Unternehmer, die ein ähnliches Pensum genauso gut schaffen. Einfach, weil sie lieben, was sie tun und tun, was sie lieben.

Doch um all das geht es nicht, wenn die Leute mich fragen, wie ich das schaffe. Die eigentliche Frage dahinter lautet:

„Wie schaffst du es fröhlich zu sein und ein erfülltes Leben zu haben, wo du doch ein schwerstmehrfachbehindertes Kind pflegst?“

DAS passt für viele nicht zusammen. Schicksalsschlag und Frohsinn. Alltägliche Belastung und Erfüllung. Kann das wirklich funktionieren? Muss man da nicht zusammenbrechen? Oder irgendwas halbherzig machen? Wie – kann – das – gehen??

Ja – Ich bin Mutter eines schwerstmehrfachbehinderten Kindes. Meine Tochter wurde mit Down-Syndrom geboren. Und sie hat Zusatzdiagnosen, z.B. Autismus, Zöliakie und diverse andere Einschränkungen, für die es komplizierte Ausdrücke gibt.

Einfacher formuliert: Finja ist 8 Jahre alt. Ich behaupte meistens, sie wäre auf einem geistigen Entwicklungsstand von 2. Das sage ich seit 4 Jahren. Und eigentlich ist auch das gelogen, denn die meisten Zweijährigen verstehen mehr als sie. Aber wenn man sich einen normalen Zweijährigen vorstellt und den Quatsch den der so macht, dann kann man sich ganz gut vorstellen wie viele Augen und Aufmerksamkeit und Hände man braucht, ein solches Kind im Körper eines viel älteren Kindes, über Jahre zu betreuen, zu fördern, zu lieben – auch wenn mal wieder der Inhalt der Blumentöpfe über Teppich und Sofa verstreut ist.

Finja spricht nicht. Sie drückt sich meist mit unartikulierten Lauten aus. Sie kann Worte nachsprechen und manchmal setzt sie diese auch situationsentsprechend ein. Das kommt ungefähr so oft vor wie warme Sommer in Deutschland: Es gibt diese Momente, aber man rechnet nicht wirklich damit.

Aber meine Tochter kommuniziert:  Sie hat im letzten Jahr gelernt Erwachsenen eine Tupperdose in die Hand zu drücken, die sie selbst nicht öffnen kann. Sie nimmt ihren geliebten Knisterschaum, gibt ihn mir und hält fordernd ihre Hand hin, damit ich ihn darauf sprühe. Sie sagt – ganz selten – plötzlich „Gute Nacht!“, ehe ich es sagen kann.

Und dennoch: Meine 8jährige trägt Windeln. Und kann sie ausziehen. Eltern von Kleinkindern wissen, was das bedeutet.

Finja ist mobil – und leider ohne Gefahrenbewusstsein. Wenn ich sie aus dem Auto nehme, muss ich stets eine Hand am Kind haben, denn sie würde glatt auf die Straße laufen. Und wenn sie es schafft in die Küche zu gelangen, dann finde ich sie fröhlich in einem Meer von Tomaten sitzend vor, die sie in verschiedenen Stadien der Zerquetschung über den Boden verteilt hat und nun genüßlich verspeist.

Finja versteht vieles: Dass die Badewanne zum Baden gedacht ist. Sie weiß auch, wie man hineinkommt und das Wasser einschaltet. Aber nicht, dass man sich vorher auszieht.

Sie weiss auch nicht, dass sie Zöliakie hat, also keine Getreideprodukte essen darf. Wir müssen daher Küche und Schränke nochmal besonders sichern und aufpassen, dass sie sich keinen Keks oder andere Dinge schnappt, die ihr schaden würden.

Aber immerhin: Finja ist ein fröhliches Mädchen. Sie hat keine Schmerzen, sie “leidet” nicht unter ihrer Behinderung und ihren Einschränkungen, sie benötigt nur ein paar Schilddrüsenmedikamente und kann sehr viele Dinge mitmachen die andere Kinder – im Alter von 2 Jahren – eben auch toll finden würden.

Ja – ich muss mit ihr oft zu Ärzten, kutschiere sie zu Therapeuten, investiere Zeit in Förderung. Das alles klingt fürchterlich anstrengend. Und das ist es auch. Und es klingt auch nach einer riesengroßen Herausforderung, deren Ende nicht absehbar ist.

Also: Warum tue ich mir das an? Wieso gehe ich diesen Weg, obwohl „man das heute doch vorher wissen kann“, wie einige wohlmeindende Mitmenschen meinen. (Mit wem sie es wohl meinen, ist mir allerdings unklar.)

Vor allem aber will man wissen: Wie kann ich trotz unseres Schicksals glücklich sein, ihren Geschwistern gerecht werden, meinen Humor bewahren und beruflichen Erfolg haben ??

„Wie schaffst du das nur?“

… diese Frage kam von einem Vater, der auch ein Kind mit Down-Syndrom hat. Nun ja – Finja ist ein Extremfall – und ihre Entwicklung ist erheblich langsamer als die anderer Down-Kinder. Aber diese Frage von einem Wegbegleiter gestellt zu bekommen, der sich auch für sein behindertes Kind entschieden hat, machte mich nochmal besonders nachdenklich.

„Ich würde durchdrehen, wenn ich dein Leben hätte!“ sagte mir vor kurzem mein bester Freund, der eine Woche mit uns gelebt hat. Manchmal finde ich tatsächlich, das wäre eigentlich eine gute Idee! Manchmal würde ich gern ein bisschen durchdrehen. Oder alles hinter mir lassen und nach New York fliegen – oder nach San Francisco in zerriss’nen Jeans …

Und wissen Sie was: Manchmal tue ich das! Okay – ich komme nicht bis nach New York. Aber bis ins „Kuckucksnest“, dem Zentrum für Schottischen Tanz in Deutschland, wo ich 4 Tage tanze, meinen Alltag vergesse und Kraft tanke.

Und damit kommen wir zum großen Geheimnis auf die ganz große Frage wie ich das schaffe:

Die Wahrheit ist: Ich schaff’ das gar nicht!

Und das muss ich auch nicht. Denn: WIR schaffen es! Und das ist schon das ganze Geheimnis.

Aber lassen Sie es mich genauer erklären.

Ich würde das alles nicht schaffen, wäre da nicht mein wunderbarer Mann, der von Anfang an als aktiver Vater für seine Kinder da war. Der mein Verständnis einer Partnerschaft teilt, das auf Gleichwertigkeit und gegenseitiger Unterstützung beruht. Der nachts noch an meiner Website werkelt und sich früh morgen um die Kinder kümmert.

Ich würde das alles nicht schaffen, ohne Kim und Imke und Laura – unsere wundervollen Babysitter, die es mir ermöglichen, regelmäßig mit meinem Mann tanzen zu gehen und Kraft und Energie zu tanken, geistig und körperlich gesund zu bleiben.

Ich würde es nicht schaffen ohne die Unterstützung der Pflegekasse und damit ohne die Solidargemeinschaft, die es mir ermöglicht, meiner Tochter das zu geben, was ich sie benötigt und Ersatzpflege zu bezahlen, wenn ich mal körperlich oder seelisch nicht mehr kann und eine Auszeit brauche.

Ich würde es nicht schaffen ohne eine hervorragende heilpädagogische Schule, die unsere Tochter den halben Tag betreut, pflegt und sie ganz außergewöhnlich gut fördert; ohne hervorragende Ärzte und engagierte Therapeuten.

Ich würde es nicht schaffen ohne meine Eltern und Cousine, die immer wieder meine behinderte Tochter betreuen, damit wir auch mal etwas mit den beiden anderen unternehmen können und ohne unsere Freunde, die gemeinsam mit unserer ganzen Familie verreisen um so einen Urlaub zu ermöglichen, der uns allen Freude und Erholung bringt.

Ich würde es nicht schaffen ohne meine Kundinnen und Kunden, die es mir ermöglichen in der wenigen Zeit, die mir für Erwerbstätigkeit zur Verfügung steht etwas Sinnvolles zu tun. Eine Tätigkeit bei der ich mein ganzes Wissen und meine Erfahrung einsetzen kann und die mich begeistert. Eine Tätigkeit, die mich erdet und ein Gegengewicht zu meinem Leben als pflegende Mutter darstellt.

Ich würde es nicht schaffen ohne meine Hobbys, die mir einen Ausgleich schaffen. Ohne die Community von Eltern behinderter Kinder, die in Foren, Familien-Blogs und durch persönliche Kontakte großzügig Wissen und Erfahrung teilt und immer da ist, wenn man Rat oder einfach Unterstützung braucht.

Und: Ich würde es nicht schaffen ohne meine großartigen Kinder, die mir ALLE, auf ihre eigene Weise Liebe, Normalität und Verständnis schenken.

Die Wahrheit ist: Ich brauche meine Familie, meine Freunde, meine Arbeit, meine Hobbys. Ich brauche es, weiter diejenige sein zu dürfen, die ich vor der Geburt meiner behinderten Tochter war: Eine vielseitig interessierte, engagierte, extrovertiert Frau mitten im Leben.

Leben unter außergewöhnlichen Umständen…

… schafft man nicht allein. Aber auch nicht ohne etwas dafür zu tun!

Manche sagen, ich hätte es einfach gut getroffen. Ich hätte Glück gehabt. Und ja: Es IST ein großes Glück, dass ich von Menschen umgeben bin, die es mir ermöglichen mein behindertes Kind so groß zu ziehen, dass es nicht leidet. Dass die Geschwister nicht leiden. Dass die Ehe nicht leidet. Dass mein Beruf nicht leidet. Dass ich nicht leide.

Es ist ein großes Glück. Aber es ist nicht nur das. Es sind Entscheidungen gewesen:

  • Die Entscheidung für Freunde, die bedingungslos zu uns stehen.
  • Die Entscheidung für ein Leben in Gemeinschaft.
  • Die Entscheidung Freunde, Betreuer und professionelle Begleiter sehr nahe an uns heran zu lassen.
  • Die Entscheidung Hilfe anzunehmen.
  • Die Entscheidung offen und ehrlich über Träume, Ängste und Bedürfnisse zu sprechen.
  • Die Entscheidung für weitere Kinder.
  • Die Entscheidung für ein normales Leben – unter außergewöhnlichen Umständen.

Ich schaffe es nicht, weil ich Glück habe – sondern weil ich eine Vision habe aus der sich Entscheidungen automatisch ergeben:

Ich glaube daran, dass jeder Mensch ein Lebensrecht hat – und ein Recht auf Liebe, Familie und Wachstum. Ich bin davon überzeugt,  dass Menschen von jeher dadurch überlebt haben, dass sie große Aufgaben geteilt haben, um gemeinsam Dinge möglich zu machen, die ein einzelner nicht schaffen kann.

Diese Vision trägt mich nicht nur, sie zieht auch jene an, die dieses Ideal teilen. Die ebenfalls der Auffassung sind, dass ein Recht auf Leben nicht davon abhängen sollte, ob jemand sich die Schuhe allein zubinden, normal sprechen oder selbständig baden kann. Ich umgebe mich bewusst mit solchen Menschen und meide jene, die ein anderes Weltbild haben.

Manche sagen ich wäre ein Held …

Vielleicht ist da sogar was dran?! In den alten Märchen und den Legenden moderner Fantasy steckt schon ein Körnchen Wahrheit: Die Wirklichkeit formt sich um die Entscheidung des Helden, Leben und Wohlergehen anderer hängen von ihm ab – und das Happy End wird niemandem hinterhergeschmissen …  Klingt irgendwie schon nach meinem Leben.

In meinem früheren Artikel „Mein Leben ist ein Ponyhof“ habe ich festgestellt, dass der Heiligenschein mir nicht passt. Ich bin weder besonders edelmütig, aufopferungsvoll oder gar heilig. Es ist nicht so, dass ich irgendwas mache, das nicht jeder andere Hobbit auch tun könnte. Aber ich bin eben der Hobbit, der den verdammten Ring bekommen hat.

Der Held muss sich entscheiden. Er steht vor eine Aufgabe, die anfangs unlösbar erscheint. Er kann sich ihr stellen oder gemütlich zu Hause bleiben und die Abenteuer den anderen überlassen.

Dabei geht es nie um Bagatellen! Es muss immer gleich das Land vom bösen Tyrannen befreit, die Prinzessin gerettet oder gar der Teufel selbst besiegt werden. Nichts weniger als die Freiheit des Auenlandes, das Überleben der Menschheit oder die Seele des Freundes steht auf dem Spiel.

Es geht um Ideale, um Überzeugungen und um das Gute, Wertvolle im Leben. Kampf Licht gegen Dunkelheit. Ist das Leben und das Wohlergehen eines behinderten Kindes nicht genau so ein Kampf? Ist das Recht auf Existenz, Normalität und Gesundheit nicht auch so eine Ideal?

Die Frage ist doch nicht: „WIE schaffe ich das alles?“, sondern „WARUM tue ich es?“. Weil ich – genau wie Frodo, Harry Potter oder Catelyn Stark – gar keine Wahl habe. Weil es um etwas geht, das mir lieb und teuer ist. Und weil meine Werte gar nichts anderes zulassen würden. Weil es um das Leben und das Wohlergehen meines Kindes geht.

Und dann geht man eben den einzigen Weg, der möglich ist und nimmt die Herausforderung an. Aber das Märchen weiß auch: Kein Held schafft es allein! Jene Helden, die es versuchen, sind sehr schnell tote Helden. Der Erfolg fällt dem Helden nicht zu. Er muss sich anstrengen, Dinge aufgeben, sich entscheiden was wirklich wichtig ist – und Hilfe annehmen.

Denn was wäre Harry ohne Hermine? Wie weit wäre Frodo gekommen ohne den Bund der Freunde, die ihn bis zu den Toren von Mordor brachten? Welcher Held kommt ohne den Rat der Hexe aus und ohne die Unterstützung des Zwergs, dem er einst aus Gutherzigkeit zu Hilfe kam, ohne magischen Artefakte und das Erlernen und Nutzen seiner ureigensten Gaben?

Hilfe annehmen, wo sie geboten wird ist eine Notwendigkeit im Helden-Alltag. Sich entwickeln und sein Potential ausschöpfen ein weiterer Punkt ohne den auch der Held des Märchens und der Fantasy es nicht schaffen kann. Und nicht zuletzt wäre da noch Abgrenzung, Wagemut, Kampf und Hartnäckigkeit, die zum Helden-Dasein gehören: Die missgünstige Stiefmutter muss in ihre Schranken gewiesen, den Versuchungen des Teufels widerstanden und die üblen Zaubereien des Gegners durchschaut werden.

Kein Heldenepos kommt ohne Anstrengung, Freundschaft, Liebe, Risiko, Hingabe und schließlich der Bereitschaft zur Veränderung aus.

Ja … vielleicht bin ich in gewisser Weise eine Heldin.  Ob ich Erfolg haben werde? Ich weiß es nicht. Wenn meine Tochter ein glückliches Leben hat und ihre Möglichkeiten ausschöpfen kann; wenn es gelingt, dass sie durch ihr Leben der Gesellschaft etwas zurückgibt; wenn ich es schaffe, dass meine Familie durch diesen Weg gestärkt wird und keiner Schaden nimmt – dann ist meine Mission erfüllt.

Und dann muss ich dasselbe sagen wie alle Helden am Ende ihrer Queste: Es ist nicht mein Verdienst.

Ich trage vielleicht den Ring, den Blitz, den Namen oder das Schwert. Ich tue zwar, was getan werden muss, weil die Aufgabe bei mir gelandet ist und ich bereit war diesen Weg zu gehen. Aber ohne den Gefährten, der alles mitträgt, ohne die Freunde und hilfreichen Menschen, die auf diesem Weg unterstützen, ohne Artefakte und Hilfsmittel und ohne die Ratgeber und weisen Männer und Frauen, die den entscheidenden Hinweis in verzweifelten Momenten geben – könnte auch ich das alles nicht schaffen.

Am Ende ist der Held immer nur ein Teil der Geschichte und das Happy End ein Zusammenspiel aller Protagonisten. Und daher gilt an dieser Stelle mein tiefer Dank allen, die es möglich machen, dass ich dieses Abenteuer erleben darf. Vor allem aber: Meiner Familie und meinen Freunden. Und all den anderen Helden da draußen, die ebenfalls ihr Schicksal angenommen haben und zeigen, dass es möglich ist.

Schicksal kann ein Schlag sein – oder aber eine Einladung zu einem großen Abenteuer und einem außergewöhnlichen Leben.