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„First Contact“ – Wenn Welten aufeinander treffen.

10 Tipps zur Vermeidung von Irritation beim Umgang mit Behinderten.

Artikel von Marion Mahnke, selbständiger Coach und Lebensberaterin

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An Tagen wie beispielsweise dem Welt-Down-Syndrom-Tag oder dem Welt-Autismus-Tag wird es besonders deutlich: Geistig und seelisch behinderte Menschen und ihre Familien sind ebenso wie Körperbehinderte ein Teil unserer Gesellschaft. Sie wollen gesehen und wahrgenommen werden.

Dank EU-Behindertenrechtskonvention und dem Anspruch auf Inklusion, begegnet man Behinderten auch in Deutschland (wieder) öfter im ganz normalen Alltag: In Regel-Kindergärten, Schulen, aber auch am Arbeitsplatz, auf der Straße oder im Sportverein.

Selbst in Fernsehen und Medien werden Menschen mit Einschränkungen immer präsenter. Die Folge: Die Vielfalt menschlichen Seins wird nicht mehr in exklusiven Systemen versteckt. Und das ist gut so!

Als Coach für schwierige Situationen und ungewöhnliche Lebenslagen habe ich festgestellt, dass viele Menschen sich unzureichend vorbereitet fühlen: In den letzten Jahrzehnten waren Begegnungen kaum möglich. Behinderte wurden mit dem Sonder-Bus in Sonder-Einrichtungen gebracht, verbrachten ihre Freizeit zu Hause, ihr Arbeitsleben in einer „beschützenden“ Werkstatt und waren gezwungen, ihr Sozialleben mit „ihresgleichen“ oder „professionellen Helfern“ zu gestalten. Niemand hat Menschen, die nicht beruflich oder familiär mit Behinderten zu tun hatten, je beigebracht angemessen mit Einschränkungen und ungewöhnlichen Verhaltensweisen umzugehen.

Was also tun, wenn die Schwiegertochter ein Kind mit Down-Syndrom bekommt, in der Klasse Ihres Sohns plötzlich ein behinderter Schüler lernt oder Ihr Arbeitgeber einen Asperger-Autisten als Kollegen einstellt?

Die Veränderungen des Systems fordern uns heraus: Kann unsere Gesellschaft damit umgehen? Und: Ist es nicht eine Zumutung, sich im Umgang mit anderen Menschen nicht mehr auf übliche Verhaltensweisen verlassen zu dürfen?

Manchmal erscheint uns das ebenso schwierig wie der „Erste Kontakt“ mit einer neuen Spezies, den Käpt’n Kirk und Jean-Luc Picard in der Serie Raumschiff Enterprise herstellen sollten. Oft sind es nur sehr wenige Dinge, die sich von den eigenen Gewohnheiten und Lebensweisen unterscheiden – aber manchmal scheinen auch Welten zwischen uns und jenen zu liegen, denen wir begegnen.

10 häufige Fragen über die Begegnung mit Behinderten und ihren Angehörigen

1) Darf man das Wort „behindert“ eigentlich verwenden oder ist das eine Beleidigung?

Ehrliche Antwort? Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen! An und für sich ist der Ausdruck „behindert“ schlicht ein Adjektiv. Es ist eine Aussage darüber, wie die Eigenschaften einer Person ihre Teilhabe an der Gesellschaft oder ihre persönliche Entfaltung „behindern“.

Leider wird das Wort in der Jugendsprache in letzter Zeit als Schimpfwort missbraucht. Das macht es schwierig, den Ausdruck neutral zu verwenden. Unglücklicherweise gibt es kaum eine gute Alternative. Natürlich können Sie „Menschen mit Einschränkungen“ sagen oder andere Umschreibungen nutzen, aber das wirkt immer etwas sperrig.

Letztlich bleiben wohl nur zwei Lösungen: Nutzen Sie Tonfall, Gestik und Mimik um deutlich zu machen, dass der Ausdruck nicht abschätzig gemeint ist. ODER: Fragen Sie den Betroffenen schlicht, welchen Ausdruck er bevorzugt.

2) Fühlen sich Rollstuhlfahrer diskriminiert wenn man ihnen die Tür öffnet?

Auch hier kommt es auf die Person an. Aber generell wird mit dieser Frage ein Spannungsfeld angesprochen, das in der Tat schwierig ist: Es ist unhöflich die Grenzen einer anderen Person zu übersehen. Gewisse Dinge sind nun einmal unmöglich, wenn ein Mensch bestimmten Einschränkungen unterliegt und es wäre ignorant so zu tun als wäre es anders.

Auf der anderen Seite sind behinderte Menschen oft erstaunlich gut in der Lage ihre Einschränkungen zu kompensieren. Und Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit ist Ihnen in besonderem Maße wichtig.

Grundregel also wieder: Respektieren Sie das Recht auf Selbstbestimmung und fragen Sie Ihr Gegenüber welche Hilfestellungen gewünscht sind. Bleiben Sie aufmerksam und bieten Sie Unterstützung in aller Selbstverständlichkeit an – aber nehmen Sie behinderten Menschen nichts ab, ohne dass dies klar abgesprochen wäre.

Vor allem aber: Leisten Sie die Hilfe, die benötigt wird – aber nehmen Sie niemandem ungefragt Dinge ab, die er vielleicht gern selbst tun würde. Auch wenn es Ihnen „leichter“ oder „schneller“ erscheint, wenn Sie Aufgaben übernehmen: Selbstständigkeit ist den meisten Behinderten erheblich wichtiger als Bequemlichkeit oder Schnelligkeit.

3) Darf man Menschen auf ihre Behinderung ansprechen?

Ja. Die meisten Behinderten wissen, dass sie „anders“ sind und sind froh darüber wenn Menschen MIT ihnen sprechen, statt ÜBER sie. Das gilt auch für Eltern behinderter Kinder

4) Mir geht das Schicksal dieser Leute oft so nahe – da halte ich lieber Abstand.

Was würden Sie selbst schlimmer finden: Behindert bzw. chronisch krank zu sein? Oder: Behindert bzw. chronisch krank zu sein und ausgegrenzt zu werden? Die meisten Menschen, denen Sie in der Öffentlichkeit begegnen haben sich längst mit ihren Einschränkungen abgefunden. Sie wollen am Leben teilhaben. Was für Sie als Nicht-Betroffenen tragisch und „schlimm“ erscheint ist für diese Menschen und ihre Familien Alltag und kaum der Rede wert. Es ist verständlich, dass Sie sich Gedanken machen und intensive Gefühle entwickeln, wenn Sie erstmalig behinderten oder chronisch kranken Menschen begegnen – aber machen Sie sich klar: Diese Leute leben oft schon lang in dieser Situation – und sie wollen eben NICHT, dass ihre Welt sich immer nur um die Behinderung dreht. Sie wollen so viel Normalität wie möglich. WENN Ihnen das Schicksal dieser Leute nahe geht – dann schenken Sie Ihnen Teilhabe an der ganz normalen Welt, am ganz normalen Alltag.

5) Ich habe Angst, dass ich was Falsches sage oder den Leuten zu nahe trete.

Zugegeben: Auch unter Behinderten gibt es sehr empfindliche Menschen. Es gibt Leute, die alles auf die Goldwaage legen oder die so viel Ablehnung erfahren haben, dass sie nicht mehr glauben, dass jemand es einfach nett meint. Manchmal drückt man sich unglücklich aus.

Aber es gibt genauso viele humorvolle, souveräne und sehr reflektierte Menschen unter den Behinderten wie unter den Nicht-Eingeschränkten. Ja – es KANN passieren, dass Sie jemandem zu Nahe treten. Das kann Ihnen aber auch mit ganz normalen Menschen geschehen.

Wichtig ist nur Eines: Sprechen Sie in Gegenwart der behinderten Person immer MIT diesem Menschen und nicht mit dem Assistenten. Leider wurden die Begleitpersonen von Behinderten immer in der Vergangenheit als “Betreuer” missverstanden. Das ist manchmal auch so. Üblicherweise können Behinderte aber sehr gut für sich selbst sprechen. Auch wenn sie geistig eingeschränkt sind. Sprechen Sie also zunächst MIT dem Behinderten und schauen sie diesen auch an. ER ist derjenige um den es geht – seine Assistenz ist lediglich sowas wie Sekretariat, Begleitperson, zusätzliche Hände und Füße oder Übersetzer.

Also – sprechen Sie MIT Behinderten. Denn: Die meisten Behinderten finden es am Schlimmsten, wenn sie vor lauter Angst, dass man Ihnen zu Nahe treten könnten un-nahbar werden und Ausgrenzung erleben. Also: Riskieren Sie es!

6) Ich würde das behinderte Kind/ meinen behinderten Kollegen ja auch gern einladen – aber ich weiß doch gar nicht, ob das geht! Meine Wohnung ist doch gar nicht behindertengerecht und ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll, wenn derjenige „komisch“ ist.

Ich verstehe, dass es eine komische Situation ist. Behinderte Menschen haben oft besondere Bedürfnisse. Manche können ihre gewohntes Umfeld nur verlassen, wenn sie sich gut
vorbereitet haben. Andere benötigen besondere Ernährung oder andere Vorkehrungen in der Gast-Umgebung.

Aber: Behinderte und ihre Familien sind Experten in eigener Sache! Laden Sie sie ein! Fragen sie höflich aber nicht übereifrig, was Sie dazu beitragen können, damit die Person sich wohlfühlt. So wie sie es mit jedem anderen Gast eben auch machen würden! Bedenken Sie, dass die eingeladene Person vielleicht einen Assistenten mitbringen möchte oder muss und versuchen Sie damit so selbstverständlich wie möglich umzugehen. Zum Beispiel indem Sie sagen: “Du kannst natürlich gern jemanden mitbringen, wenn du willst.” oder gan einfach fragen: “Werden Sie allein kommen oder bringen Sie eine Begleitung mit?”.

Selbst wenn die Person absagt, kann bereits der Umstand, gefragt worden zu sein, für diesen
Menschen ein großes Geschenk sein! Und: Fragen Sie gern wieder! Verstehen Sie eine Ablehnung nie als generelle Ablehnung, es sei denn, der Betroffene sagt ausdrücklich, dass er diese Einladung generell nicht annehmen kann oder bestimmte Situationen meiden möchte.

Manchmal brauchen gerade behinderte Menschen länger, um zu begreifen, dass die Einladung ernst gemeint ist oder müssen aus gesundheitlichen Gründen öfter ablehnen, ehe mal ein Tag kommt, an dem es klappt! Aber wenn es klappt, ist das für sie oft eine besondere Freude!

7) Fühlen sich Behinderte unter ihresgleichen nicht wohler?

Zugegeben: Es ist schon manchmal schön, Menschen zu begegnen, die mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. ABER: Die Idee, dass behinderte Menschen mit anderen Behinderten besser zurecht kommen als „normale“ Leute, ist schlicht absurd. Vielleicht verstehen Sie manche Verhaltensweisen oder Wahrnehmungen anderer Betroffener schneller oder besser – aber das muss nicht so sein! Zumal es unter Behinderten auch tausende von Erscheinungsformen gibt. Ich umgebe mich auch nicht lieber mit Frauen, nur weil ich selbst eine Frau bin. Und ich verstehe beileibe nicht die Verhaltensweise aller Deutschen nur weil ich selber in Deutschland geboren wurde. Geht es Ihnen anders?

8) Hingucken, Weggucken, Angucken? Was ist denn nun richtig?

Menschen, die „anders“ sind, reagieren oft empfindlich auf Blicke. Wenn es irgend geht, versuchen Sie durch Ihre Körpersprache zu signalisieren, dass die Blicke nicht böse oder neugierig gemeint sind. Wenn Sie z.B. ein Kind mit einer Behinderung betrachten, ist es oft hilfreich auch zu sagen, warum Sie länger hinschauen. Liegt es daran, dass Sie gerade etwas über Down-Syndrom gelesen haben und sich fragen ob dieses Kind auch DS hat? Oder finden Sie das hingebungsvolle Spiel des geistig behinderten Kindes mit Licht und Schatten faszinierend? Oder erwartet Ihre Tochter gerade selbst ein Baby mit einer Einschränkung? Wenn irgend möglich: Versuchen Sie nicht schweigend zu starren, sondern kommen Sie mit den Betroffenen auf höfliche und respektvolle Weise ins Gespräch, so dass Ihre Blicke nicht missdeutet werden können.

9) Darf ich auch sagen was mich stört oder irritiert?

Ja! Genau wie bei jedem anderen Menschen sind Offenheit und eine respektvolle Aussprache auch mit Behinderten und ihren Angehörigen möglich. Und genau wie bei jedem anderen Menschen gibt es Leute, mit denen man sehr gut reden kann und Menschen, die „schwierig“ sind. Nur weil jemand eingeschränkt ist, ist er deswegen nicht „edler“ oder „schutzwürdiger“ als andere Menschen. Auch mit Behinderten kann man klar und offen darüber reden, wie man miteinander umgehen möchte. ABER: Bedenken Sie, dass manche Verhaltensweisen womöglich behinderungsbedingt sind. Seien Sie offen für Erklärungen. Seien Sie neugierig auf die Lebensweise, die Bedürfnisse und Wahrnehmungen dieser Leute. So wie sie in einem anderen Land auch genau hinschauen und hinhören, warum die dort lebenden Leute sich vielleicht ganz anders Verhalten, als sie es von zu Hause gewohnt sind.

Tipp: Versuchen Sie, Ihre Irritationen in Ich-Botschaften zu formulieren, und fragen sie ernsthaft nach, warum der andere bestimmte Dinge so handhabt.

10. Darf man der frischgebackenen Mutter eines behinderten Kindes gratulieren?

Unbedingt! Es ist erstmal ein Kind auf die Welt gekommen. Und die Frau ist Mutter geworden! Egal unter welchen Umständen und egal wie lang diese Familie mit diesem Kind zusammen sein wird – die Eltern lieben ihr Kind.
Freuen Sie sich mit den Eltern über die Geburt ihres Kindes, ohne jetzt schon an die kommenden Schwierigkeiten zu denken! Ja – die kommende Zeit mag schwierig werden. Und dann können Sie Mitgefühl haben und Unterstützung anbieten. Tun sie das! Aber erst, wenn Unterstützung und Mitgefühl gebraucht werden. Im Wochenbett brauchen junge Familien eines: Liebe, Solidarität und so viel Normalität wie möglich. Zeigen Sie jungen Eltern, dass ihr Kind willkommen ist auf der Welt – genau so wie es ist!