Das Geheimnis ungewollter und doch gelingender Inklusion
Für ein paar Wochen im Jahr, sind wir eine ganz normale Familie: Mutter, Vater, behindertes Kind, Geschwister. Eine Familie wie tausend andere, die jährlich in Baiersbronn ein- und ausgehen. Wenn wir das Ortsschild passieren, fühlen wir uns inzwischen wie zu Hause.
Wie zu Hause? Vielleicht doch nicht ganz, denn hier sind wir irgendwie „normaler“ als daheim.
Inklusion – das Miteinander unterschiedlicher Menschen – ist in Baiersbronn nichts, was ausdrücklich angestrebt wird. Es ist keine Fiktion, kein Ideal, kein Konzept. Inklusion ist etwas das unbeabsichtigt „passiert“. Ganz selbstverständlich. Liegt es an der Schwarzwälder Luft? Sind die Menschen hier besonders offen und tolerant? Hat man hier hohe Ideale und hehre Ziele?
Ich fürchte, daran liegt es nicht. Aber ich werde in diesem Artikel der Frage nachgehen, was Baiersbronn so anders macht und wie es passieren kann dass wir uns – ganz ohne inklusiven Anspruch – hier so zugehörig fühlen.
Ausgerechnet Baiersbronn …
Zugegeben: Wir kommen nicht wegen der wunderbaren Landschaft, der Sterne-Köche, dem ausgedehnten Wandernetz. Wir kommen nicht wegen der Schwarzwälder Kuckucksuhren, der Buhlbachforelle oder dem ausgeklügelten Familien-Programm.
Vermutlich nehmen andere Touristen „uns“ nicht wirklich wahr. Sie wissen nicht, was dieser Ort für Familien mit behinderten Kindern bedeutet. Und vermutlich wird auch manch ein Baiersbronner nicht verstehen wie sehr viele von uns den Aufenthalt in dieser Gemeinde genießen und warum.
Unser Kind ist behindert und benötigt intensive Förderung. Und das Therapiezentrum Iven mit seiner speziellen Therapieform hilft uns dabei. Auch wenn das Zentrum nicht einmal unter den Therapie- und Kureinrichtungen der Touristikwebseiten Baiersbronns erwähnt wird, so prägt sie still und heimlich, aber doch entscheidend den Ort, die Grundhaltung der Anwohner.
Der Grund warum wir nach Baiersbronn kommen ist sicherlich das Therapiezentrum.
Der Grund warum wir GERN kommen ist die Selbstverständlichkeit mit der wir hier behandelt werden.
„Die ganze Gemeinde hat sich dran gewöhnt“
Diese wenigen Worte einer Einheimischen sagen alles aus. „Die Behinderten, die gehören halt zum Ortsbild dazu. Das nimmt man gar nicht mehr so wahr.“ sinniert eine andere. „Klar – die Kinder sehen auf dem Spielplatz immer Behinderte! Da kommts dann auch schon mal zu Fragen am Abendbrottisch. Aber das ist hier doch ganz normal.“
Normal. Da war es wieder, dieses Wort. Der Norm entsprechend. Und hier gehören wir zur Norm. 40-45 Familien kommen jede Woche aufs Neue ins Zentrum. In 51 Wochen. Mehr als 2000 Familien pro Jahr.
Aber das findet man in Kureinrichtungen oder Orten, die von einer Fachklinik dominiert werden auch. Wo ist der Unterschied?
Der Name „Zentrum“ trifft es ziemlich gut. Familien aus ganz Deutschland und teilweise auch aus dem Ausland strömen nach Baiersbronn. Und doch wohnen sie dort nicht gemeinsam in einer Einrichtung. Stattdessen mietet jede Familie nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen eine Ferienwohnung, Pension oder ein Hotelzimmer. 2000 Familien im Jahr, die sich für je eine Woche in einer der Ferienwohnungen in und um Baiersbronn einmieten. Und die Vermieter lernen uns kennen. Unsere Kinder, unsere Familien, die verschiedensten Behinderungen.
Wer jahrelang Behinderte beherbergt verliert Berührungsängste. Ein lächelndes Schulterzucken, wenn wir uns dafür entschuldigen, dass unser Kind vielleicht zu ungewöhnlichen Zeiten mal brüllt ohne dass wir es beruhigen können: „Ach – sowas kennen wir doch!“.
Gelassenheit im Umgang mit ungewöhnlichen Menschen – das kann man offenbar trainieren. Natürlich! Jeder weiss, dass man sich an Ungewöhnliches gewöhnt, wenn es zum Alltag wird.
Aber: Wer ins Therapiezentrum kommt braucht nicht nur eine Ferienwohnung. Täglich gibt es drei Therapien. Dazwischen hat man „frei“, geht in die örtliche Buchhandlung, in die Cafés, in die Eisdiele oder erledigt seinen Einkauf in den Discountern und Supermärkten am Ort. Oft mit Kind.
2000 Familien, die in der Freizeit die Angebote des Touristenortes nutzen: „Die sind schon ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor!“ wissen die Mitarbeiter der Touristeninformation. Denn es kommen ja nicht nur die behinderten Kinder, sondern auch urlaubsbedürftige Eltern und die Geschwisterkinder mit. Außerhalb der Therapien werden wir hier als Touristen gesehen, die konsumieren – und nicht wie so oft als unberechenbar, komisch oder gar Ärgernis.
„Es ist normal, verschieden zu sein“
Die Worte des ehemaligen Präsidenten Richard von Weizsäcker mögen noch so wahr sein – mein Alltag ist anders.
In diesen wenigen Wochen im Jahr fühle ich mich als Mutter ungewöhnlich frei und unbeschwert, wenn ich in der Öffentlichkeit unterwegs bin und ich wage Dinge, die ich sonst nicht tun würde: Meine geistig schwer eingeschränkte Tochter ohne Ankündigung und Vorabsprachen in ein Spielhaus mitnehmen zum Beispiel. Spielhäuser sind für „normale Kinder“ gedacht. Aber hier ist es tatsächlich normal verschieden zu sein.
Auch das Freibad in Baiersbronn und das Schwimmbad in Freudenstadt sind an Behinderte gewöhnt, der Optiker vor Ort sitzt ganz gelassen und repariert unsere Brille ohne ständig argwöhnisch zu schauen, ob dieses behinderte Kind womöglich den Verkaufsraum auseinander nimmt. Auf dem Spielplatz finden sich Kinder aller Art – völlig normalentwickelte ebenso wie stark eingeschränkte.
Auch im schon erwähnten Spielhaus nehmen die Betreuer keinerlei Notiz von meinem kleinen Mädchen mit Down-Syndrom und selbst ungewöhnliches Verhalten einer Achtjährigen irritiert niemanden in der Öffentlichkeit.
Rollstuhlfahrer, Schwerstmehrfachbehinderte, Menschen mit Down-Syndrom oder den verschiedensten anderen – oft seltensten – Syndromen und Erkrankungen sind im Ort schlicht kein ungewöhnlicher Anblick – einfach keines zweiten Blickes wert.
Wie selbstverständlich gibt es Geocaching-Angebote die man auch mit Buggy oder Rolli bewältigen kann und barrierefreie Wanderwege. Wie selbstverständlich gehen die Gastronomen auf besondere Bedürfnisse ein. Wie selbstverständlich treffen die Geschwister meiner behinderten Tochter auf andere Kinder, die auch behinderte Geschwister haben.
Und wir Eltern? Wir genießen es mit Buggy um den Mummelsee oder barrierefrei durch Klosterreichenbach zu spazieren. Genießen es völlig selbstverständlich einen glutenfreien Osterbrunch buchen zu können, weil auch Zöliakie vielen Gastronomen nicht unbekannt ist. Genießen es in der Öffentlichkeit einfach nicht als „besonders“ wahrgenommen zu werden.
Und wenn wir dann im Zentrum sitzen und warten, während die Kinder in der Therapie sind, diskutieren wir „unsere“ Normalität. Schimpfen über die schlechte Qualität von Windeln für Kinder im Grundschulalter, tauschen uns darüber aus ob eine Förderschule oder eine Regelschule die bessere Wahl für eingeschränkte Kinder sind und diskutieren mit allergrößter Selbstverständlichkeit über Herzoperationen, Orthesen, Verhinderungspflege und die neuen Pflegegrade.
Ein bisschen kommt da dies Gefühl von Verbundenheit und Normalität durch, das ich hatte, als ich mit meinen regelentwickelten Kindern in Babykursen und Eltern-Kind-Gruppen war und mich mit anderen Müttern über Babybreie, Zahnungsketten und Schlafprobleme unterhalten habe.
Wenn die Kinder aus den Therapien zurückkommen, gehen wir wieder auseinander: In unsere Ferienwohnungen oder wir brechen zu unseren Urlaubsaktivitäten auf. Und bleiben „normal“ – solang, bis wir die Ortschaft verlassen haben. Und spätestens an der Autobahnraststätte auf der Fahrt in den Norden fällt es mir wieder auf: Da sind sie wieder – die Blicke der Leute … und ich fange in Gedanken mich für unser Anderssein zu entschuldigen..